Toggle Menu

BGH, Beschluss vom 1. August 2023 – VI ZR 191/22: Gehörsverstoß?

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat sich in seinem Beschluss vom 1. August 2023VI ZR 191/22 mit der Frage befasst, wann ein Gehörsverstoß im prozessualen Sinne vorliegt. Gegenstand war eine Berufungsentscheidung des Oberlandesgerichts Dresden, Entscheidung vom 20.05.2022 – 1 U 336/21 – zu einem erstinstanzlichen Urteil des Landgerichts Chemnitz, Entscheidung vom 29.01.2021 – 2 O 1169/17 -.

Die Entscheidung des BGH ist insbesondere auch mit Blick auf die kurz erwähnte Frist des § 320 ZPO und die Bedeutung des Tatbestandsberichtigungsantrags im Vorfeld einer Berufung lesenswert.

  1. Worum ging es in der Entscheidung IV ZR 191/22?

    Der BGH stellte fest, dass hier das Berufungsgericht den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzte.

    Das Berufungsgericht war der Meinung, der Beklagte habe in der Klageerwiderung in I. Instanz vor dem Landgericht die geltend gemachten Schäden zulässig (nur) mit Nichtwissen bestritten. Der daraufhin erforderliche substantiierte Klägervortrag nebst Beweisantritt sei bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz ausgeblieben. Erst mit nicht nachgelassenen Schriftsätzen sei dies dann erfolgt. Dieser Sachvortrag sei allerdings gemäß §§ 525, 296 Abs. 2 ZPO verspätet (präkludiert). Die Revision ließ das Berufungsgericht nicht zu. Dagegen und gegen die Anwendung der Präklusionsvorschriften wandte sich der Kläger mit der sogenannten Nichtzulassungsbeschwerde.

  2. Hatte die Nichtzulassungsbeschwerde Erfolg?

    Ja! Der BGH stellte fest:

    In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass Art. 103 Abs. 1 GG dann verletzt ist, wenn der Tatrichter Angriffs- oder Verteidigungsmittel einer Partei in offenkundig fehlerhafter Anwendung einer Präklusionsvorschrift zu Unrecht für ausgeschlossen erachtet hat (vgl. Senatsbeschluss vom 3. März 2015 – VI ZR 490/13, NJW-RR 2015, 1278 Rn. 7 mwN).

    Wie war es hier? Hier kam es auf die Beweiswirkung des Tatbestandes des erstinstanzlichen Urteils nach § 314 ZPO an, in dessen Lichte der Tatbestandsberichtigungsantrag und die dabei zu beachtende Zwei-Wochen-Frist des § 320 ZPO (die wesentlich früher abläuft als die Frist zur Einlegung der Berufung, zu deren Vorbereitung der Berichtigungsantrag dient). Der BGH stellte fest:

    Nach den tatbestandlichen Feststellungen des Landgerichts war der Vortrag des Klägers zum Verdienstausfallschaden in erster Instanz unstreitig. Diese tatbestandlichen Feststellungen erbringen gemäß § 314 Satz 1 ZPO Beweis für das Vorbringen der Parteien am Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz (vgl. Senatsurteil vom 22. Dezember 2015 – VI ZR 101/14, juris Rn. 48).

    Wohlgemerkt, der Beklagte hatte in erster Instanz wohl bestritten, allerdings (nur) mit Nichtwissen, was offenbar nicht genügte. Das Berufungsgericht hat dann erstmals in der mündlichen Berufungsverhandlung darauf hingewiesen, dass es das Bestreiten der Beklagten in zweiter Instanz berücksichtigen werde. Den daraufhin gehaltenen Vortrag des Klägers in den nicht nachgelassenen Schriftsätzen wies es gemäß §§ 525, 296 Abs. 2 ZPO als verspätet zurück. Zu Unrecht, so der BGH:

    Das Landgericht hat festgestellt, dass die Ausführungen des Klägers zum Verdienstausfallschaden in erster Instanz unbestritten geblieben sind. […] Obwohl sich diese Passagen in den Entscheidungsgründen des erstinstanzlichen Urteils finden, handelt es sich um tatbestandliche Feststellungen, deren Unrichtigkeit grundsätzlich nur im Berichtigungsverfahren nach § 320 ZPO geltend gemacht werden kann (vgl. Senatsurteil vom 22. Dezember 2015 – VI ZR 101/14, juris Rn. 50; BGH, Urteil vom 13. Juli 2000 – I ZR 49/98, NJW 2001, 448, 449, juris Rn. 21 mwN). Diese Feststellungen stehen auch nicht im Widerspruch zu einer weiteren Passage im erstinstanzlichen Urteil, die lautet: „Die Beklagten berufen sich auf Verjährung und bestreiten die Unfallfolgen.“ Denn hier wird nur ein allgemeines Bestreiten festgestellt, das sich – wie sich aus den oben zitierten Passagen ergibt – gerade nicht auf den Vortrag des Klägers zur Höhe des Verdienstausfallschadens bezieht. Die Beweiskraft des Tatbestands wird im Streitfall auch nicht durch das Sitzungsprotokoll nach § 314 Satz 2 ZPO entkräftet (vgl. zu den Voraussetzungen Senatsurteil vom 22. Dezember 2015 – VI ZR 101/14, juris Rn. 50). Eine Berichtigung des Tatbestands nach § 320 ZPO ist nicht beantragt worden.

  3. (Doch) nicht (erstmalig) bestritten?

    Die Frage, ob und inwieweit etwas in erster Instanz wirksam bestritten war und ob es sich als so bestritten in den Urteilsgründen auch wiederfindet, ist deshalb von großer Bedeutung, weil das erstmalige Bestreiten in der Berufungsinstanz nur unter besonderen Voraussetzungen als neues Verteidigungsmittel Berücksichtigung findet:

    Vor diesem Hintergrund war das in der Berufungsbegründung enthaltene Bestreiten der Höhe des Verdienstausfallschadens durch die Beklagten als neues Verteidigungsmittel zu behandeln, das nur unter den Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 ZPO zuzulassen ist. Das Berufungsgericht hat, ohne auf die Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 ZPO einzugehen, den Parteien erstmals in der mündlichen Berufungsverhandlung mitgeteilt, dass es das Bestreiten der Beklagten berücksichtige und angesichts dessen ein Beweisantritt des Klägers zum Verdienstausfall fehle. Nach der Zulassung eines neuen Verteidigungsmittels nach § 531 Abs. 2 ZPO muss das Gericht dem Gegner jedoch ermöglichen, hierzu Stellung zu nehmen. […] Dies hat das Berufungsgericht verkannt. Als Reaktion auf die Ausführungen des Berufungsgerichts hat der Kläger mit Schriftsätzen vom 12. Februar und 4. April 2022 weiter vorgetragen. Diesen Vortrag hätte das Berufungsgericht nicht als verspätet gemäß §§ 525, 296 Abs. 2 ZPO zurückweisen dürfen.

    Im Zusammenhang mit erstmals in der mündlichen Verhandlung erteilten Hinweisen des Gerichts wäre § 139 Abs. 4 ZPO zur materiellen Prozessleitung noch erwähnenswert, nach dem gilt:

    (4) Hinweise nach dieser Vorschrift sind so früh wie möglich zu erteilen und aktenkundig zu machen. Ihre Erteilung kann nur durch den Inhalt der Akten bewiesen werden. Gegen den Inhalt der Akten ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig.

    Beachtenswert wäre dann die Beantragung einer Erklärungsfrist nach § 139 Abs. 5 ZPO. Die vorliegende Entscheidung spricht insofern nur von „nicht nachgelassenen Schriftsätzen“, so dass offen bleibt, ob hier ein Antrag auf eine solche Erklärungsfrist durch das Gericht abgelehnt oder der entsprechende Antrag nicht gestellt worden ist.

Sie haben Fragen zu Berufung oder Berufungsverfahren?

Sprechen Sie uns gerne an!

Rechtsanwalt und Fachanwalt
für Baurecht und Architektenrecht
Christian Trupke-Hillmer
angestellt bei
Schomerus & Partner PartGmbB
Deichstraße 1
20459 Hamburg
Mobil +49 (0) 162 794 04 91
Telefon +49 (0) 40 376 01 2447
E-Mail christian.trupke-hillmer@schomerus.de

WAS?

Häufige Fragen, kurz beantwortet.

Ich freue mich, von Ihnen zu hören!

Ihr Rechtsanwalt
und Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht
Christian Trupke-Hillmer
angestellt bei
Schomerus & Partner mbB
Deichstraße 1
20459 Hamburg
Telefon: +49 (0) 40 376 01 2447
E-Mail: christian.trupke-hillmer@schomerus.de

WIEVIEL?

HONORARINFORMATION

Gerne informiere ich Sie über die für eine anwaltliche Tätigkeit entstehenden Kosten und die hierzu existierenden gesetzlichen Rahmenbedingungen und Gestaltungsspielräume. Hier finden Sie vorab einige knappe Antworten auf häufig gestellte Fragen:

Sie haben weitere Fragen? Ich freue mich, von Ihnen zu hören!

Christian Trupke-Hillmer
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht